ein persönlicher Bericht von Natalie Lewandowski:
Es geht los
Woche rum, Freitagabend, gerade mal genug Zeit um sich umzuziehen, was zu essen und wieder loszurennen: 3 Tage gesangstechnisches Ranpowern ist angesagt. Müdigkeit: gefühlte 9 auf einer 10er Skala, Enthusiasmus: naja, eher unterhalb der 5 … Neugier auf den Projektstart: definitiv 20! Knapp eine halbe Stunde und eine sauschwere Kirchentür später, geht das altbekannte und nach der Sommerpause vermisste „Hallo, hallo, hallo“ inklusive obligatorischer Umarmungen und Küsschen wieder los und am (vor)freudigen Strahlen meiner Chorkolleginnen und Chorkollegen sehe ich eindeutig: das muss ein Erlebnis werden. Nicht nur die GiOs sind am Start, auch der Chor aus St. Veit in Waldenbuch ist eingetrudelt. Dementsprechend kompakt eingepfercht sitzen wir zum Probenstart um 19:30 Uhr da und sind bereit für das Auftaktwochenende zum Adventsprojekt Amazing Love mit Julie Lindell und Tom Dillenhöfer.
Gesangscoaching auf Dänisch
Uns steht gegenüber eine blonde Skandinavierin mit einer absolut großartigen Stimme. Von energischem Auftreten und einer hammermäßigen Bühnenpräsenz wurde mir von den Teilnehmern des letztjährigen Workshops mit Julie auch schon vorgeschwärmt. Und dann die Überraschung: das Ganze kam auch noch mit einer großen Portion Humor! Damit auch wirklich nichts von ihren bildhaften Beispielen und Tipps an den nicht englischsprachigen Teilnehmern vorbeigeht, haben alle paar Sitzreihen einige spontan ihr Talent zum Simultandolmetschen entdeckt, und nudeln alles eifrig ins Deutsche um. Joaaa, dann sind ich und meine Müdigkeit wohl gut aufgehoben die nächsten 2,5 Stunden! Wird entertainend und kuschelig-entspannt – dachte ich zumindest. „Ah ne doch nicht“ war dann glaube ich mein erster Gedanke am Samstagmorgen. Schuld daran war unter anderem das Julie-Workout.
Gospel-Fitness mit Julie
Nicht, dass wir lustige Verrenkungen nicht schon vom Einsingen zu jedem Probenanfang gewohnt wären und Tom uns nicht sowieso immer gefühlte 50 Mal hinsetzen und wieder aufstehen lässt … aber so warm wurde es uns glaube ich tatsächlich lange nicht mehr. Julie versicherte uns auch, dass das so sein muss. Ohne Schweiß kein Preis oder so ähnlich waren ihre Worte. Als erstes haben wir gelernt, welche Muskeln es so gibt, die uns beim Singen unterstützen können. Da standen wir nun mit dem Daumen am Bauchnabel und atmeten um die Wette ein und aus um das Zwerchfell zu finden. Kein Glück bei den fragend guckenden; die hysterisch Lachenden haben zumindest mal entdeckt, dass sie da kitzelig sind. Ist ja auch irgendwie ein Erfolg. Da ist man vorgewarnt für die eigene Gesangszukunft und wenn nochmal ein Coach so eine Übung versucht, kann man direkt sagen: „Mein Zwerchfell und ich machen da jeweils ihr eigenes Ding. Das haben wir beim letzten Mal so vereinbart“.
Der Pilzesammel-Move dahingegen klang vielversprechend und auch sehr sinnvoll: länger Luft beim Singen haben! Und zumindest musste man diesmal die Muskeln nicht erst ausfindig machen. Je tiefer man in die Hocke geht und die Stützmuskeln arbeiten lässt, desto länger kann man den Ton halten. Ja, soweit die Theorie. Dann versucht das mal in einer vollgepackten Kirchenbank in die Tat umzusetzen. Links kein Platz, rechts kein Platz. Also gut, dann mal tief einatmen und ab geht’s geradeaus runter. Ganz abgesehen davon, dass bei mir trotz aller sich anstrengenden Stützen die Luft schon nach der Hälfte der Strecke zum Boden weg war, käme ich sowieso nicht wirklich tiefer, da ich bei zwei Drittel des Weges unweigerlich mit der Nase an der Rücklehne meines Vordernachbarns hängen blieb. Ich hätte glaube ich hier schon aufgegeben, wenn danach nicht die tolle Nackenlockerungsmassage gekommen wäre.
Der (Ohne-) Noten-Schock
Okay, dann mal los mit dem richtigen Singen. Zwei Notenhefte haben wir anfangs bekommen – ein großes mit unseren Projektliedern, und ein kleines mit Songs, die Julie und Markus Lindell uns für das Wochenende mitgebracht haben. Nur, dass das kleinere „Noten“heft gar keine Noten enthält – ohoh! Panische „Ooooh wie soll das gehen?“-Blicke wohin man schaut, gefolgt von „Uiiii, die Lieder kennen wir ja gar nicht“-Geflüster. Schluck. Also doch mehr Arbeit als Entspannung hier. Leicht war es nicht, unbekannte Texte im Schnelldurchgang zu lernen und neue Melodien nur zu hören, und nicht auch gleich gewohnt auf Papier mitverfolgen zu können. Aber es eröffnete doch auch neue Welten.
Da stehen wir also, gucken etwas minder optimistisch nach vorne (weil erstens: Notenheft langweilig, da unbrauchbar, und zweitens: der Glaube an die eigene Gesangsfähigkeit langsam aber stetig sinkt) und oha! Wer ist denn das da auf dem Podest? Und die Person rudert da rum und macht komische Moves! Meint die uns? War die schon immer da? Bzw. hat die schon immer so gefuchtelt? Guckst Du! Es geschehen noch Zeichen und Wunder – kaum die Nase aus dem Notenheft gezückt, schon den Chorleiter ins Spotlight gerückt. Und ja – Du bist definitiv auch gemeint. Und ja – es wird nicht um des Fuchtelns willen gefuchtelt. True story.
Stimmliche Eingebungen um die 7 goldenen „Regeln“
Es kann ja nur noch besser werden, dachte ich mir, als es dann weiterging im Programm. Julies Mann Markus spielt, Julie erklärt. Tom erklärt, Alex spielt. Julie erklärt, Tom dirigiert. Julie dirigiert, Tom beobachtet kritisch. Tom dirigiert, Julie dirigiert, wir konsterniert. In dem Verfahren haben wir dann alle drei Workshoptage an den sieben goldenen Regeln des Gospel-Singens gefeilt – wobei Julie Lindell das Wort “Regel” nicht so gut gefiel. Vielleicht sollten wir es die sieben „Empfehlungen“ nennen, soll ja alles geschmeidig bleiben und keiner sich gezwungen fühlen.
Auf Platz eins: Vibrieren muss die Stimme beim Singen, sonst kommt der Ton zu gerade raus – sprich, wir vermeiden die „gääähnwashastdudageradegesungengäääähn“-Reaktionen des lieben Publikums.
Danach kam die Dynamik aka das Krokodil – der zwar nicht grüne, aber immerhin aus zwei Julie-Armen bestehende Lautstärkeregler hat uns sowohl zart gehauchte Engelstöne, wie auch Heavy-Metal-Grölen entlockt, und Tenor und Bass durften sich auch mal wieder fühlen wie im Stadion.
Drittens, das Dahingleiten zwischen den Tönen – allen Badezimmersängern als „The Mariah Carey“ bekannt. Man peilt den Ton nicht direkt an, sondern fliegt ein paar gekonnte Schleifen drunter und drumherum, bis man dann eine punktgenaue Landung hinlegt. Und diese Landung sollte man auch nach all den Schleifen nicht vergessen. Ist wichtig, klingt sonst schief und nix mehr Mariah Carey.
Super Techniktipps gab es noch mehr: Stakkato vs. Legato bedeutet entweder ich-sing-e-je-de-Phra-se-so-an als würde ich gerade eine gute Currywurst kleinhacken und auf jedes Stückle einzeln Ketchup daraufträufeln oder aber so, als gäbeeszwischendenWursthappengarkeinePausezumindestmalsolangemannochLufthaaaat.
Da Tom und Julie beide viel Wert auf Bewegung beim Singen legen, durfte auch die kleine Gospelrhythmuslehre nicht fehlen. Deutsch-korrekt auf den Schlag, hinterm Beat her hechelnd wie eine relaxter südländischer Pizzaservierer oder dem Rhythmus um einiges voraus sein wie ein Eichhörnchen auf Koffein. Nix ist falsch, alles geht, cool – kann man sich endlich mal was aussuchen! Ah ne, wartet mal, da war doch was – jo, der Chorleiter! Also auch hier nicht so, wie jeder denkt, sondern so, wie man’s vorne sieht (wenn man’s vorne sieht).
Und auch unsere Bässe durften sich einmal fühlen, wie eine kleine singende Eisprinzessin! Julies Zauberhände machten es möglich: einmal links oben eine kreisförmige Bewegung – 500 Stimmen singen lieblich wie ein kleines gelbes Disneyfilmvögelchen; einmal die Hände nach rechts unten und das kleine Vögelchen kriegt ein Riesenorgan, und gelb und niedlich sind passé.
Und zu guter Letzt DIE Regel überhaupt: Fühlen, was man singt! Wenn was hängengeblieben ist, dann das – denn das ganze Wochenende war geprägt von Feeling pur. Einfach mal überlegen, worüber die Songs eigentlich sind und nicht nur, ob man zu Hause die Waschmaschine abgestellt hat und der Toaster auf Dauerbetrieb nicht mittlerweile die Tapete anbrutzelt. Und dann genau dieses Feeling des Songs weitergeben! Die Lieder sollen ja im Konzert und im Gottesdienst nicht ins Leere sondern Menschenherzen treffen.
Und als wir dachten, mehr geht mit unseren Stimmen nun wirklich nicht, kam die Runde „Twang“. Witzig klang das Ganze nur bis zu dem Moment, als Tom sagte, der Alt soll das doch auch mal probieren. Und so kam es dann dazu, dass wir nicht nur 200, sondern in etwa 400 schrille Fluggänse in der Friedenskirche vernommen haben. Das Zwerchfell hat sich bedankt – nun ist doch kein Wochenendworkout mehr nötig.
Das Dreamteam
Mein absolutes Highlight des Wochenendes: Julie und Tom zusammen auf der Bühne! Das Hingucken wurde zwar begleitet von einem ständigen Unruhezustand durch den sich zu nahe am Rand des Podests befindlichen Notenständer (zu Recht …) – und das luftig hohe Arrangement des Podests selbst, bedingt durch die große Menge der sich freie Sicht wünschenden Teilnehmer. Doch außer des Bangens um die Flugeigenschaften von Julie, Tom und dem Notenständer war die Teamarbeit eine absolute Meisterleistung und unglaublich toll anzusehen! Dynamik hoch zehn, strahlendes Lächeln, witziger Austausch, fließende Rollenübergänge, große Gesten, strenge Blicke (nur von Julie), das Englisch-Deutsch-Gemisch, umpurzelnde Notenblätter (dito), gefühlte 50 Mal neues Ansingen. „Sorry, but no.“ – jetzt gilt es die Welt des Wedelns, Schiebens und Fuchtelns über den Notenheftrand hinaus aufs Neue interpretieren zu lernen. „Wie? Bei mir macht ihr das nicht?!“ – Ups, wohl wieder etwas temporär lost in Julie-Tom-Translation.
Love the job!
An diesem Wochenende waren wir tatsächlich doppelt gesegnet. Oder vierfach. Vier fantastische Menschen haben uns ihre Leidenschaft gezeigt – die Leidenschaft für die Gospelmusik, die Leidenschaft fürs Singen, und – die Leidenschaft fürs Weitergeben dieser Leidenschaft! Klingt komisch, ist aber so. You gotta love the job – sagte mir mal ein Didaktikprof. „Wenn man sich vor Menschen hinstellt und denen was beibringen will, dann muss man es lieben und es muss von Herzen kommen, wenn nicht, dann tu dir und den anderen einen Gefallen, und mach’s nicht.“
Tom, Alex, Julie und Markus leben und lieben die Musik und lieben, das mit uns zu teilen. Nichts ist aufgesetzt, künstlich, auswendig gelernt und von oben herab oder belehrend – alles ist authentisch, lebendig, dynamisch und perfekt, um das Beste aus uns rauszuholen. Und genau so macht Gospel unendlich viel Spaß! Das tollste daran: Tom & Alex haben wir ja längerfristig gepachtet, also geht es genauso weiter während des ganzen Adventsprojekts!
Wir wurden motiviert, gefordert, gelobt, gepusht, aufgeweckt. Wie jetzt, nicht leiser geworden? Wie jetzt lieblos und <nasebohrend> da gestanden? Nein nicht „thelord“, THE LORD! Wie jetzt, ihr wisst nicht was ihr da singt? Julie und Tom haben uns auf der Überholspur ins Adventsprojekt befördert und so manche Gospel-Lebensweisheit an uns weitergegeben. Ab heute nur noch Vollgas, voll da und das alles unbedingt mit Feeling!
Text: Natalie Lewandowski
Fotos: Ludmilla Parsyak